Die Geschichte der Familie Leininger und ihrer Nachbarn im Penns Creek: Was sich da in der Zeit vor dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg - fernab von den damaligen Zentren der Welt - in Pennsylvania an kleinen und großen Dramen abspielte, war die unmittelbare Folge europäischer Weltpolitik. Und die Episode in Fort Carlisle, die das deutsche Kirchenlied "Allein, und doch nicht ganz alleine" in Pennsylvania zur Legende machte, war ein direktes Ergebnis einer Klausel im Pariser Vertrag, mit dem der Siebenjährige Krieg endete

Dieser von 1756 bis 1763 andauernde Konflikt ist bei uns - wenn überhaupt - als jener Krieg bekannt, mit dem Preußen den Österreichern Schlesien entriss. Lange her, nicht mehr wirklich wichtig.

In Wahrheit handelte es sich um den ersten weltweit geführten Krieg. Er begann in Amerika zwischen Briten und Franzosen, zwei Jahre früher als in Europa. Sein Ende bedeutete eine grundlegende Verschiebung der Machtverhältnisse und das Ende der französischen Herrschaft in Nordamerika. In den USA ist der Konflikt deshalb bis heute als "French and Indian Wars" in lebhafter Erinnerung. Vom einst riesigen "Neufrankreich", das sich von Neufundland bis nach Louisiana an den Golf von Mexiko erstreckte, blieb nur das frankophone Québec unter britischer Herrschaft. Und die siegreichen Briten sollten nur wenige Jahre später von der Amerikanischen Revolution aus den jungen Vereinigten Staaten vertrieben werden.

Das grausame Ende von Sebastian Leininger und seinem Sohn Johann, ihrer Nachbarn Jean-Jacques Le Roy, Bastian und der zehn anderen Siedler, die am 16. Oktober 1755 im Penns Creek starben, ist eine Episode vom Anfang dieses Weltkriegs. Genau wie die Gefangenschaft von Barbara und Regina und ihrer neun weiteren Schicksalsgenossen, die an diesem Tag ebenfalls entführt wurden.

Von Württemberg nach Penns Creek

Warum siedelten die Leiningers gerade hier an der Gabelung am Oberlauf des Susquehanna (Karten)? Und warum war dieses Gebiet verhängnisvoll für die Württembergische Familie?

Jahrzehnte lang hatte in Pennsylvania Frieden zwischen den amerikanischen Urvölkern und den europäischen Siedlern geherrscht. Als die Familie Leininger aus Württemberg in den Penns Creek kam, holte die Weltpolitik gerade Atem.

Weniger von Kämpfen mit den "Wilden" und "Barbaren" war da in Deutschland aus Pennsylvania zu hören, als von den unerhörten Chancen, die sich da für Auswanderer böten. Und das auch noch in einem frommen, evangelischen und deutschen Umfeld.

Der Pionier Johann Conrad Weiser

Der Pionier, dem Tausende deutsche Auswanderer in das westliche Grenzland von Pennsylvania folgten, war Johann Conrad Weiser (1696-1760).

Auch Weiser stammte aus Württemberg: In Affstätt bei Herrenberg als Sohn eines Soldaten geboren, kam er bereits als Jugendlicher mit seiner Familie nach Nordamerika. Auf Einladung des Mohawkhäuptlings Quaynant verbrachte Weiser als 16-Jähriger 1712/13 einen Winter bei dessen Stamm, um Sprache und Kultur dieses Volks kennenzulernen.

Zehn Jahre später zog Weiser - inzwischen verheiratet - den Susquehanna River hinauf und siedelte auf einer Farm im heutigen Tulpehocken-Womelsdorf (Pennsylvania).

Als Brückenbauer zwischen den Kulturen ist Conrad Weiser bis heute eine pennsylvaniadeutsche Legende. Im Susquehanna-Gebiet freundete er sich schnell mit Shikellamy, einem Häuptling der Oneida an, den er bei der Jagd getroffen hatte. Als Shikellamy zu Verhandlungen nach Philadelphia reiste, nahm er Conrad Weiser mit, weil er dem Deutschen vertraute. Für die Irokesen galt er als adoptierter Sohn der Mohawks. Auch die Briten waren beeindruckt von dem schwäbischen Pionier und zogen ihn als Dolmetscher heran.

Weiser unternahm zahlreiche heikle Verhandlungsmissionen, kaufte Land und sorgte zugleich immer wieder für Ausgleich und Friedenschlüsse. Bei Siedlern, britischen Kolonialherrn und Irokesen gleichermaßen geachtet, stieg Weiser neben Benjamin Franklin zu einem der bedeutendsten Politiker Pennsylvanias auf. Mit der deutschen Heimat gut vernetzt, holte er Tausende weiterer deutscher Siedler ins Land.

Wie Conrad Weiser religiös tickte, zeigt, dass er sich 1734 dem radikal-pietistischen Prediger und Mystiker Johann Konrad Beissel (1691-1768) aus Eberbach anschloss. Bis 1741 lebte er - obwohl weiterhin Familienvater - immer wieder in dessen Kommunität des Klosters Ephrata. Als echter Nordamerika-Pionier war Conrad Weiser Farmer, Pelzhändler Landspekulant, Stadtplaner, oberster Richter in seinem County - und nach Ende der Beissel-Episode zudem lutherischer Laienprediger.

Nur mit den Lenape- und Shawnee-Stämmen, traditionellen Feinden der Irokesen und mit den Franzosen verbündet, konnte es Weiser nicht so gut. Für "seine" Siedlungen im Susquehanna-Tal sollte sich das fatal auswirken.

Denn westlich des Susquehanna-Flusses verlief nicht nur die "Frontier", die sich stetig nach Westen verschiebende Grenze der europäischen Eroberung Nordamerikas. Durch die Wildnis Pennsylvanias verlief auch die Grenze zwischen dem britischen Einflussbereich und "Neufrankreich". "New England" also, oder "Nouvelle France"? Bei ihrem Ringen um die Vorherrschaft auf dem gewaltigen Kontinent setzten Briten und Franzosen schon lange auf "indianische" Verbündete, wobei traditionelle Feindschaften zwischen Völkern und Stämmen gezielt ausnutzten.

Der Kampf wurde grausam und erbittert geführt, im grünen, wilden Land der Lenape und Irokesen, wie es James Fenimore Cooper anschaulich in seinen "Lederstrumpf"-Erzählungen beschrieben hat. Die Praxis des Skalpierens führten die Europäer zwar nicht ein, förderten sie aber als praktischen "Leistungsnachweis" in Sachen getöteter Feinde.

Europäer in indianischer Gefangenschaft

Über 40 Namen und Personenbeschreibungen von Deutschen, Engländern, Schweizern und anderen europäischen Frauen und Kindern listen Marie Le Roy und Barbara Leininger am Ende ihres Berichts auf. Sie haben diese Menschen in der Gefangenschaft getroffen oder von ihnen gehört und möchten nun möglichen Angehörigen ein Lebenszeichen geben.

Die "Erzehlungen" Marie Le Roy und Barbara Leininger aus dem Jahr 1759 sind die erste ursprünglich deutschsprachige Schilderung einer Gefangenschaft bei Indianern. Sie war nicht die einzige. Die Entführung von Weißen durch die Indianer Nordamerikas war bis Anfang des 19. Jahrhunderts historische Realität - und alles andere als selten. Nach vorsichtigen Schätzungen erlitten in dieser Zeit wenigstens 10 000 Europäerinnen und Europäer das Schicksal indianischer Gefangenschaft. Die Verschleppten dienten als Arbeitskräfte - oder man erpresste mit ihnen Lösegeld. Andere wurden von Indianern adoptiert, um im Kampf mit den Europäern erlittene Verluste auszugleichen.

Die Vertragsbedingungen im Frieden von Paris führten vier Jahre später, 1763, in Nordamerika zu neuen blutigen Erschütterungen: In "Pontiacs Krieg" leisteten im Sommer vor der Episode von Carlisle Huronen, Miamis, Delawaren, Shawnees, Mingos und Seneca erstmals gemeinsam den immer mächtiger werdenden Briten militärischen Widerstand. Sie wehrten sich auch gegen die Friedensklausel, die die Übergabe aller europäischen Gefangenen vorsah.

Einige von diesen waren längst zu Familienmitgliedern geworden, zu Adoptivsöhnen oder Ehefrauen. Nun wurden nicht nur Sklaven befreit, sondern auch Familien gewaltsam auseinandergerissen. Einige der Befreiten zogen die neuen Bindungen und das "indianische" Leben den Zwängen ihrer Zeit auf der "europäischen" Seite vor. Sie flohen zurück in die Stämme und zu den Familien, die sie aufgenommen hatten, wie zeitgenössische Berichte zwischen Erstaunen und Empörung vermerken.

Pietistischer Mystik

Es gibt also unterschiedliche Blickwinkel, aus denen die Geschichte "indianischer Gefangenschaft" erzählt werden kann. Die Erzählungen der beiden Leininger-Mädchen nehmen eine klar europäisch-christliche Perspektive ein, die durch die Umstände (Flucht, Niederschrift durch einen Theologen) ihrer Überlieferung noch verstärkt werden. In beiden Geschichten kommen wörtlich überlieferte pietistische Liedtexte vor.

Lässt sich daraus schließen, welches Liederbuch die Auswandererfamilie Leiniger in ihrem knapp bemessenen Gepäck gehabt hat?

Vielleicht war es das weit verbreitete und seit 1708 in unzähligen Auflagen erschienene Gesangbuch "Geistliche und liebliche Lieder" des pietistischen Liedersammlers Johann Porst (1668-1728), einem Bierbrauersohn aus Bayreuth. Dafür spricht, dass beide der von den Mädchen zitierten Lieder in dem Porst-Gesangbuch stehen.

"Ach wer doch bald hinüber wär! schrey ich aus Angst der Seelen, über das rothe Creuzes-Meer, wie lang muß ich mich quälen! Wo ist die Fahrt? Wo ist die Bahn? da ich die Fluthen waten kan, ach ist denn nirgends Hülfe mehr? Ach wer doch da hinüber wär!"

Dieses Lied ihrer Kindheit habe sie, berichtet Barbara Leininger in ihren "Erzehlungen", betend gesungen, als ihre kleine Fluchtgruppe vor dem reißenden Fluss Muskingum steht und diesen gefahrvoll überwinden muss.

Es ist ein Stück anonymer pietistischer Mystik, das Porst - ebenso wie das Schmolck-Lied "Allein, und doch nicht ganz allein" - in sein Lieder- und Gebetbuch aufgenommen hat, das wie die Allgemeine Deutsche Biographie süffisant bemerkt, "nicht frei von pietistischen Geschmacklosigkeiten" sei, "wie sich z. B. in ihm das Lied befindet, in welchem der Sänger wünscht, Jesu Amme zu werden."

"Von Verleugnung der Welt" ist Barbaras Lied betitelt, nach der Melodie von "Allein zu dir, Herr Jesu Christ" (EG 232) ist es zu singen. Das Lied ist eine Zwiesprache zwischen der "Seele" und dem antwortenden Jesus. Barbara zitiert in ihrem Bericht die fünfte von insgesamt 21 Strophen, die sie womöglich alle auswendig kannte. Jesus wird in dieser Strophe der "Seele" antworten: "Ich bin bey dir, ich helfe dir, drum halte ein mit Flehen, aus diesem kanst du glauben mir, daß ich dir muß beystehen, weil ich dich schon heraus gebracht aus Egypten, durch meine Macht, hast du denn das vergessen schier? Sieh für und für bin ich bey dir und helfe dir."

Klima der Angst

Der Überfall auf die Siedler im Grenzgebiet war für die Deutschen in Pennsylvania jedenfalls ein Schock.

Noch nach der Niederlage des englischen Generals Braddock gegen indianische Verbündete der Franzosen, die im Sommer 1755 das Vorspiel zum Massaker im Penns Creek bedeutete, hatte die in Germantown gedruckte deutsche Zeitung geschrieben, die Siedler müssten nichts fürchten, schließlich habe 70 Jahre Frieden mit den Indianern geherrscht.

Johann Christoph Sauer (1695-1757), der erste deutsche Buchdrucker und Zeitungsmacher in Nordamerika, auch er pietistisch-pazifistisch geprägt, warnte in seinen Pennsylvanischen Berichten sogar vor rassistischen Übergriffen: "Seither (…) sind sehr viele von dem gemeinen Volck über die Indianer entrüstet, und halten sie alle vor Feinde, sprechen wohl gar, man solt die Hunde alle todt schiessen, sie sind Verräther und Schelmen etc. das geschiehet wohl gar in Eyrisch und teutscher Sprache, den Indianern zum Verdruß und Aergerniß, welche doch bißher Proben ihrer Freundschafft erwiesen haben (…). Die Leute aber thun nicht wohl, daß sie die Unschuldige mit den Schuldigen verurtheilen und verdammen."

Nach dem Massaker loderte das Klima der Angst erst richtig auf. Auch pazifistisch gesinnte Pietisten wie Conrad Weiser griffen nun zu den Waffen. Weiser organisierte Milizen und ließ Forts zur Verteidigung errichten. Der Krieg hatte das einst friedliche und fromme Land der deutschen Siedler im Griff.

Conrad Weiser starb am 13. Juli 1760 auf seiner Farm. Zu seinem Begräbnis kamen auch zahlreiche Indianer. Einer von ihnen, ein Irokese, bemerkte dabei gegenüber weißen Siedlern: "Wir haben einen großen Verlust erlitten und sitzen in Dunkelheit ... denn seit seinem Tod können wir einander weniger gut verstehen."

Eine düstere Vision, die Wirklichkeit wurde: Nie wieder war das Verhältnis zwischen Siedlern und Amerikas "First Nations" in Pennsylvania so gut, wie zu Lebzeiten des frommen deutschen Pioniers.