Meine Depression fing damit an, dass mich die Schönheit der Schöpfung völlig kalt ließ. Die Umwelt sprach immer weniger zu mir, mir wurde alles egal, auch mir selbst wurde ich gleichgültig. Glück oder die kleinen Unpässlichkeiten und Missgeschicke des Alltags nahm ich ohne innere Anteilnahme hin. Ob eine Sache so oder so entschieden wurde - was ging mich das an! Später ließen meine Einsatzbereitschaft und meine Arbeitskraft immer mehr nach.

Ich musste mich regelrecht zwingen, wenigstens das Nötige zu tun und zu entscheiden. Meine Frau und gute Freunde merkten es. Sie sagten es mir auch. Ich wehrte mich dagegen und leugnete meinen Zustand. Ich war eben nur verdrießlich, dachte ich, wie man halt manchmal verdrießlich ist. Ich verlernte völlig das Lachen und wurde des Lebens überdrüssig. Ich lebte nur noch wie einer lästigen Pflicht gehorchend dahin. Wie um der Müdigkeit, der schlechten Laune und der Verdrießlichkeit etwas entgegenzusetzen, tauchten Suizidgedanken auf. Keineswegs quälend, wie es auch vorkommt, sondern durchaus als befreiende Möglichkeit, den unhaltbaren Zustand Leben zu beenden.

Meine Hoffnung, vom Ast erschlagen oder totgefahren zu werden

Zugleich wusste ich, dass diese Lösung für mich nicht in Frage kam. Ich blieb davon überzeugt, dass ich Verantwortung für mein Leben trug. Doch hoffte ich, wenigstens von einem niederfallenden Ast erschlagen, von einem Auto totgefahren zu werden, oder, noch besser, abends einzuschlafen und morgens gar nicht mehr aufzuwachen.

Dies war die erste Phase meiner Depression. Schon hier kam meine Praxis des Glaubens fast vollständig zum Erliegen. Über meinen Glauben legte sich eine Art Dämmerung. Gott trat in den Schatten und ich erlebte eine Zeit des Zweifelns, wie sie wohl jeder Glaubende bisweilen erlebt. Sie dauerte diesmal so lange, dass ich mich fragte, wie ich meine Arbeit als Pfarrer wohl noch glaubwürdig tun könne. Ich riss mich zusammen. Es gehörte einfach zu meinem Beruf, die Zweifel und Fragen, die der christliche Glaube aufwirft, am eigenen Leib zu spüren. So dachte ich.

Zum Lebensüberdruss gesellten sich wenig später Aggressivität und Wut. Der geringste Anlass genügte für einen Wutausbruch. So schleppte ich in meiner Depression die Last der Tage dahin, bis ich des Schleppens müde wurde und mich einfach in mein Schlafzimmer verkroch. Das heißt, ich stand morgens nicht mehr auf, sondern verdunkelte das Zimmer so gut es eben ging und verbrachte den Tag im Dunkeln.

Trauer über mein "verpatztes Leben"

Nach drei Tagen aber sah ich es ein: Ich war krank! Ich brauchte Hilfe, und zwar von außen. Ich suchte meine Hausärztin auf und erhielt auch anstandslos eine Überweisung an einen Neurologen und Psychiater. Also, ein Termin beim Neurologen musste her, aber das war gar nicht so einfach. Zwei Monate Wartezeit! Es waren zwei Monate meines seelischen Niedergangs. Ich musste mich krankschreiben lassen. Das war auch gut so, denn ich hatte meiner Gemeinde nichts mehr zu sagen.

In der nächsten Phase meiner Krankheit erfasste mich tiefe Trauer über mein verpatztes und verschleudertes Leben. Was war ich mir selbst und meinen Mitmenschen nicht alles schuldig geblieben! Wie hatte ich unter meinen Möglichkeiten gelebt! Und nun war ich schon so alt, zu spät, um noch irgendetwas nachzuholen. Die Trauer ging über in Selbstmitleid. Am meisten beunruhigte mich, dass mir mein Glaube abhanden gekommen war. Das bedeutete für mich den Zusammenbruch meines ganzen Lebenshauses. Dass ich auch den Beruf eines Pfarrers nicht mehr würde ausüben können, war mir klar, war aber bei Weitem nicht das Entscheidende. Mir war der Boden unter den Füßen weggezogen und ich baumelte mit den Beinen meiner Seele über dem Nichts. Gottesfinsternis breitete sich aus.

Ich wandte mich Hilfe suchend an einen Freund - er war Theologe und Psychotherapeut. Er sagte: "Du glaubst nicht mehr an Gott? Das ist in deinem Zustand völlig normal. Wer in einer Depression gefangen ist, kann nicht mehr glauben. Das gehört sozusagen zum Wesen der Depression dazu. Du trägst keine Verantwortung dafür. Du bist unschuldig." Ich atmete tief auf. Das war eine durch und durch befreiende Botschaft. Wenn ich keine Schuld an meinem Unglauben trug, dann brauchte ich mich nicht zu fürchten, vor gar nichts.

Die zwei Monate waren um, und ich ging zu meinem Arzt. Er stellte die erwartete Diagnose: Depression. Er verschrieb mir ein Medikament, das den zu schnellen Abbau des Serotonins verzögerte, und verschaffte mir eine Therapie bei einem der besten Psychotherapeuten in meiner Stadt. Dort konnte ich mein Leben ausbreiten, konnte meine Fehler zugeben, meine enttäuschten Hoffnungen ausleben und Kraft schöpfen für das Weiterleben. Langsam ging es aufwärts. Der Himmel bekam sein Blau zurück, die Bäume ihr Grün und die Blumen ihre Farbe. Und ganz langsam, mit dem Auftauchen aus der Dunkelheit, konnte ich wieder fühlen - Freude, Trauer, Ärger und Wut, Liebe.

Drei Dinge waren hilfreich, um wieder ans Licht zu kommen

Entscheidend aber war, dass auch mein Glaube wiederkam. Im Nachhinein begriff ich den Sinn meiner Krankheit. Ich hatte in meiner Depression eine Lektion zu lernen, die ich nur dort lernen konnte: Gott ist größer als mein Glaube und größer als mein Unglaube, größer vor allem als meine Depression.

Ich konnte Gott nicht mehr festhalten; aber ich wusste später: Er hatte mich festgehalten. Gott hält mich auch dann, wenn ich ihn nicht mehr halten kann. Von seiner Liebe kann auch die Depression mich nicht scheiden. Gott ist nicht abhängig davon, ob ich die Kraft habe, an ihn zu glauben. Nach dem Motto: Erst muss ich an Gott glauben, dann ist Gott für mich da. Und wenn ich nicht mehr an Gott glauben kann, ist Gott auch nicht mehr für mich da. Ein absurder Gedanke.

Denn das ist gerade der Sinn und der Kern des evangelischen Glaubens an Gott: dass er für mich da ist, bevor ich überhaupt glauben kann, bevor ich lieben und etwas leisten kann. Ich erkannte fast wie zum ersten Mal: Gott ist für den Menschen da. Er ist unabhängig davon, ob der Mensch nun ein Glaubensheld ist oder ein Glaubensschwächling oder ob er die Fähigkeit zum Glauben ganz verloren hat.

Allein aus Gnade schenkt Gott den Glauben, und wenn man den Glauben nicht halten kann, ist Gottes Gnade nicht zu Ende. Sie bleibt, wenn alles andere schwindet. Christlicher Glaube ist nicht das Sahnehäubchen auf der Torte eines gelingenden Lebens, sondern ist Gnade für den, der glauben möchte und nicht kann, ist Trost für den, der Gott halten möchte und ihn nicht halten kann.

Die Voraussetzung für diese mutmachenden Gedanken war allerdings, dass ich mich nicht scheute, fachliche Hilfe anzunehmen. Drei Dinge waren besonders hilfreich, um aus der Versenkung wieder ans Licht zu kommen: eine fachlich kompetente Seelsorge durch einen Kollegen, die Psychotherapie durch einen Therapeuten und die medizinische Versorgung durch einen Psychiater und Neurologen. In diesen drei Hilfsangeboten zusammen habe ich Gottes Hilfe erfahren.